Estland
Getrennte Schulen, unterschiedliche Supermärkte und ethnisch passende Wohngegenden: In Estland sind 25 Prozent der Bevölkerung russisch. Sowohl Esten als auch Russen bleiben seit der Unabhängigkeit des Landes in den 1990ern lieber in ihrer jeweiligen Gemeinschaft. Zumindest bisher. Auch wenn die politische Stimmung zwischen Tallinn und Moskau kippt, leben mehrsprachige Paare in Estland längst das neue Miteinander.
Liisi Mölder
Autorin
Oksana Yushko
Fotografin
Belarus:
Baustelle Identität
Litauen:
Atomare Visionen für Visaginas
Ukraine:
Die Krim-Choreografen
Lettland:
Die neuen Rebellen von Riga
Moldau:
Maidan-Stimmung in Moldau
Russland:
Sowjet-Nostalgie am Spielautomaten
TALLINN – „Wie kannst du nur einem Vierjährigen sagen, er sei ein Besatzer?”, sagt Tiiu und schaut dabei ihren Partner Wadim an. Wadim ist einer von 85 000 in Estland lebenden Menschen mit einem sogenannten „grauen Pass“. Das bedeutet, die Staatsangehörigkeit ist unbestätigt und der Passinhaber streng genommen staatenlos. Die Farbe des auf dem Tisch liegenden Passes entspricht der Farbe der Wände. „Mein Großvater hat sein ganzes Leben lang in Estland gelebt“, erklärt Wadim, „warum muss ich also beweisen, dass ich ein würdiger estnischer Bürger bin?“
Wadim (32) und Tiiu (30) trafen sich 2015. Tiiu stammt aus Tartu, der zweitgrößten Stadt Estlands. Als sie Wadim kennenlernte, sprach sie kaum ein Wort Russisch. Wadim wurde in St. Petersburg geboren und zog mit seiner Familie nach Tallinn, als er vier Jahre alt war. Heute leben Wadim und Tiiu als Paar zusammen im Tallinner Stadtteil Mustamäe. Wadim wiederum sprach kaum Estnisch, als er Tiiu traf. „Ich sprach Estnisch und er nickte nur ‚Ja, ja‘“, erinnert sich Tiiu. Zusammengebracht hat die beiden die Musik. Tiiu, die als Dirigentin arbeitet, hatte Wadim auf einem Konzert bemerkt: Er war der Sänger und Gitarrist von Junk Riot, einer unter Esten sehr beliebten russischen Band. „Ich habe einfach meinen ganzen Mut zusammengenommen und ihm einen Brief geschrieben, dass ich auf ihn stehe und wir zusammen einen trinken gehen könnten, wenn er wolle“, lacht Tiiu.
Innerhalb von drei Monaten lernte Wadim Estnisch. Heute ist es die einzige Sprache, die sie zu Hause sprechen. Tiius Verständnis von Russisch wird besser, je näher sie seiner Familie kommt: Wadims Mutter spricht Russisch mit ihr und sie antwortet auf Estnisch. „Wadims Vater mischt die Sprachen sowieso, weil Wadims Schwester mit einem Chinesen verheiratet ist. Wenn wir uns gegenseitig besuchen, sprechen wir eine Mischung aus Estnisch, Russisch, Englisch und Chinesisch.“
In Narwa, nahe der russischen Grenze, leben hauptsächlich russischsprachige Bewohner. Nur 3 Prozent der Bevölkerung sind Esten.
Vier Esten in einer russischsprachigen Stadt
Ein paar Stunden von der Hauptstadt entfernt, in Narwa, bereiten sich Rene (33) und Bronislawa (37) auf einen gemeinsamen Restaurantbesuch mit ihren Kindern vor. Die Familie spricht Russisch: Denn Narwa liegt nahe an der russischen Grenze und hat eine überwiegend russischsprachige Bevölkerung.
Auch im Alltag und zu Hause spricht das Paar hauptsächlich Russisch, obwohl Rene Este ist. „Ich wurde hier russifiziert“, witzelt er und gibt zu, dass seine Identität in Narwa irgendwie durcheinander geraten ist. Hier sind nur 3 Prozent der Bewohner Esten – „der da und seine drei Freunde“, so geht der Witz. Russen verstehen nicht, dass Rene estnisch ist und Esten können sich nicht entscheiden, ob er russisch ist. Rene versteht nicht einmal, in welcher Sprache er denkt. Bronislawa wurde als Russin aufgezogen und sieht sich selbst auch als solche. Trotzdem identifiziert sie sich mit Estland und genießt das Leben hier in Narwa.
Ihre beiden Kinder, Evangelina (8) und Emil (6), sprechen Russisch mit ihren Eltern. Eva geht in eine Klasse mit Estnisch-Schwerpunkt und Emil wird nächstes Jahr im gleichen Programm die Schule beginnen. „Für uns ging es vor allem auch darum, ihnen zu erleichtern, Estnisch zu sprechen“, sagt Bronislawa. Sie weiß, wie schwierig es ist, in Narwa Estnisch zu üben.
Die Familie wohnt in einem zweistöckigen Haus in einem Außenbezirk von Narwa. Rene arbeitet als Stadtplaner für die örtliche Verwaltung und als Bezirksmanager der Pindi Kinnisvara Immobilienmakler. Bronislawa leitet die Cafeteria des Narwa College, einem örtlichen Ableger der Universität von Tartu. Wenn sie neue Leute einstellen will, ist es schwierig jemanden zu finden, der sowohl Russisch als auch Estnisch spricht. Zu Hause stehen Bücher über Narwas Geschichte in beiden Sprachen nebeneinander im Regal. Bronislawa erinnert sich an die Zeit, als die Ankunft neuer Esten noch sehr selten war. „Noch vor 20 Jahren wurden Esten belästigt und verfolgt“, erinnert sich Rene an seine Kindheit.
Damals hatten die Menschen Angst, auf der Straße Estnisch zu sprechen. „Ich bin vor russischen Jungs weggerannt, die mich zusammenschlagen wollten“, sinniert Rene, während er den Tisch für eine Runde Menedzer – die russische Version von Monopoly – vorbereitet.
„Völlig verschiedene Völker”
Wadim, der im Tallinner Stadtteil Õismäe aufwuchs, ist ebenfalls vor einer Horde Jungs weggelaufen – in seinem Fall estnische Jungs. Weil er in einer russischsprachigen Umgebung aufwuchs, in der russische Nachrichten und Kultur zum Alltag gehörten, neigt er nachwievor dazu, sich als Russe zu bezeichnen. „In meiner Kindheit waren wir nur Russen, die in Estland lebten“, sagt er. „Aber wir tragen bereits dieses nordische Klima in uns und sind distanzierter als die Russen, die in Russland leben.“ Wenn Wadim das Kind seiner Schwester sieht, welches asiatische Gesichtszüge hat und sich wie ein Russe verhält, dann fühlt es sich für ihn aber sowieso an, als werde die Nationalität eines Menschen immer unwichtiger.
Besonders angespannt waren die Beziehungen zwischen Esten und Russen während der Wiederherstellung der estnischen Unabhängigkeit in den 1990ern. „Von da an sah es so aus, als seien wir völlig verschiedene Völker.“ Russen, die in Estland lebten, wurden als unwillkommene Erinnerung an das sowjetische Regime gesehen und regelmäßig aus beruflichen und privaten Kreisen ausgeschlossen. Für Esten wie Tiiu hingegen war diese Zeit eine Win-win-Situation. Sie erinnert sich noch an die Party im Haus ihrer Familie, wo alle vor Freude über die Unabhängigkeit weinten und feierten.
„Diese Dinge gehören zur Vergangenheit“, sagt Wadim. „Wir spielten Basketball oder Fußball mit einigen von diesen Typen.“ Er und Tiiu leben in Mustamäe – einem Viertel von Tallinn, das sowohl Esten als auch Russen ihr Zuhause nennen. Als aber im Oktober 2016 ihr Sohn geboren wurde und es darum ging, einen Namen zu wählen, spürte das Paar zum ersten Mal wirklich kulturelle Unterschiede. „Während Russen eher traditionelle Namen mögen, wollen Esten lieber Namen aussuchen, die so besonders und originell wie nur möglich klingen“, sagt Tiiu. Sie wollte ihren Sohn Irek nennen, Wadim hielt Maksim für einen guten Jungennamen. „Deinen Sohn ‚Maksim‘ zu nennen ist so vorhersehbar, wie beim Turnschuhkauf Nike zu wählen“, spöttelte Tiiu. „Ich mochte natürlich auch Putin Iwanow, aber Wadim fand das nicht so toll.“ Nach einigen Diskussionen einigten sie sich auf Jakow.
Wadim und Tiiu wollen Jakow in einem estnisch-russischen Kindergarten anmelden, damit er dort Russisch üben kann. Kenntnisse in beiden Sprachen sind in Estland sehr nützlich. Manchmal macht Tiiu sich Gedanken darüber, in welcher Art Land Jakow aufwachsen wird.
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29.6% (mehr als 383 000 Menschen) sprechen Russisch. Gleichzeitig bezeichnen sich,
24.8% als Russen (321 000 Menschen) und
1.7% als Ukrainer (22 000 Menschen).
In Estland leben 85 000 Menschen mit ungeklärter Staatsbürgerschaft.
Estland brachte mehrere nationale Integrationsprogramme auf den Weg. Das erste davon, 1997, konzentrierte sich darauf, russischsprachige Bewohner in die estnische Gesellschaft zu integrieren. Die folgenden Projekte waren größer angelegt und zielten auf wechselseitige Integration.
2000 wurden Sprachvertiefungsprogramme eingeführt, was bedeutete, dass einige russischsprachige Schulklassen schrittweise Estnisch als Lernsprache übernahmen. Heute wenden russischsprachige Schulen ein 60-40-System an: 60 Prozent der Lerninhalte werden auf Estnisch unterrichtet, 40 Prozent auf Russisch.
Glokale Vielfalt
Rene und Bronislawa sind optimistischer. Sie sehen die estnischen und russischen Gemeinschaften zusammenwachsen, seit mehr und mehr Esten zum Arbeiten in die Stadt kommen. „Vorher hörte man kein Estnisch in den Cafés oder Läden hier“, sagt Rene. „Und wenn man Estnisch hörte, drehte man sich staunend um“, fügt Bronislawa hinzu und erinnert sich daran, dass sie das erste Mal mit 10 oder 12 auf einen Esten traf. Sie glaubt, diese neue „Vielfalt“ könnte zeitgleich mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion begonnen haben, als die Menschen begannen, mehr zwischen verschiedenen Nationalitäten zu unterscheiden.
In der Vergangenheit fühlte sie sich durch den Ausdruck „Wenn es dir hier nicht gefällt, geh‘ doch“ beleidigt. Heute sagt Bronislawa: „Das hier ist meine Heimat und ich mag mein Leben hier“. Dabei spiele es auch keine Rolle, welche Sprache sie spricht. „Ich würde sagen, du bist heutzutage eher estnisch“, fügt Rene hinzu und die beiden lachen über ihre gemischten Identitäten. Die aktuellen politischen Probleme haben für sie nichts mit Nationalität zu tun, denn beide Nationalitäten beinhalten Menschen, die pro- oder anti-Russland sind. Ihrer Meinung nach hängen politische Ansichten, wie beispielsweise zum Thema Integration, von der Bildung und dem Lebensstandard ab. „Das sind globale Probleme, auf die wir keinen Einfluss haben“, sagt Bronislawa.
Wie Wadim und Tiiu sehen auch Rene und Bronislawa, dass die estnischen und russischen Gemeinschaften zunehmend aufeinander zugehen. Um die Zukunft ihrer Kinder machen sie sich deshalb keine Sorgen. Trotzdem plant Wadim, bald die estnischen Staatsbürgerprüfungen abzulegen. „Ich fand es unfair, dass wir als Besatzer angesehen wurden, nicht aber die Menschen, die später geboren wurden“, sagt er. Er träumt von Versöhnung und dem Ende ungerechtfertigter Regeln: „Vielleicht gehe ich jetzt sogar wählen.“